Schüren Israel und die USA erneut den Konflikt in Syrien?
Nein, dies ist nicht der übliche syrische Protest. Kein Protest, wie er seit dem Ende der großen Schlachten in
Syrien gelegentlich aufflammt und dann rasch niedergeschlagen wird. Dieser Protest,
in der Stadt Sweida im Süden Syriens, hält nun schon zwei Wochen an. Bislang hat es keine Festnahmen gegeben, keine Drohungen der Sicherheitskräfte, keine Schüsse auf Demonstranten. "Und genau das macht mir Angst", sagt Samia Daoud (Name von der Redaktion geändert), Ärztin und Bürgerrechtlerin in Sweida, am Telefon.
Samia Daoud protestierte schon 2011 gegen die Diktatur in ihrem Land, während der arabischen Aufstände. Sie war dabei, als die Sicherheitskräfte begannen, auf die unbewaffneten Demonstranten zu schießen. Die staatliche Gewalt führte das Land in den Bürgerkrieg. Daoud hat mitangesehen, wie die Armee ganze Landstriche in Trümmer bombte. Sie sagt, sie kenne das Regime des Präsidenten Baschar al-Assad als eines, das vor nichts haltmache. Doch nun, angesichts der Proteste, scheine es unbewegt.
Fast täglich gehen einige Hundert Menschen in Sweida auf die Straße und rufen Slogans gegen die Preissteigerungen und sogar gegen die Staatsführung, danach gehen sie unbehelligt nach Hause. Das lasse Dämonen im Kopf entstehen, so Daoud. "Will er unsere Region abriegeln, so wie Idlib im Norden? Plant er ein großes Bombardement?" Je länger Assad nichts tue, desto düsterer werde das Geraune darüber, was er noch alles tun könnte. Daoud: "In diesem Vakuum beginnen die Leute, die sich in ihrem Frust über die Lage eigentlich einig sind, über Details zu streiten."
Der aktuelle Protest in Syrien ist klein. Er beschränkt sich vorwiegend auf die Städte Sweida und Daraa im Süden, die seit Längerem einen Grad von Unabhängigkeit von der Zentralregierung genießen. Er hat kein Potenzial, dem Regime von
Baschar al-Assad gefährlich zu werden, aber er zeigt auf, in welch kläglichem Zustand das Land unter ihm ist.
Hintergrund der Proteste ist die schlechte Wirtschaftslage mit einer Inflation, die im vierten Jahr in Folge bei um die 100 Prozent liegt. Der Großteil der syrischen Bevölkerung ist völlig verarmt, und die Regierung kürzt schrittweise Subventionen. Zuletzt verdoppelte sie den Preis für Benzin und damit auch für Lebensmittel – ein konkreter Anlass für die aktuellen Proteste. Jihad Yazigi, Ökonom am European Council of Foreign Relations, sieht das Regime in einer selbst gewählten Sackgasse: "Um die Inflation zu bremsen, bräuchte es ausländische Investitionen. Aber Investoren bräuchten Zugeständnisse des Regimes wie das Eindämmen von Willkür und Korruption." Doch genau die sind seine Machtbasis. Mit den Einnahmen, die das Regime hat – etwa aus dem Drogenhandel –, erkauft es sich die Loyalität der Milizen, die es stützen.
Es gibt aber noch einen zweiten Auslöser für die aktuellen Proteste, der nicht gleich ins Auge springt. Das ist die Hoffnung auf Besserung, die Baschar al-Assad nicht einlösen kann: Im Frühjahr war der syrische Präsident erstmals seit Kriegsbeginn in mehreren Golfstaaten zu Gast gewesen, Syrien wurde wieder in die Arabische Liga aufgenommen. In Syrien hofften viele, dass nun auch Geld vom Golf komme. Doch das ist ausgeblieben. Die Golfstaaten hatten ein geopolitisches Interesse daran, sich mit Baschar al-Assad zu zeigen, aber Vertrauen in ihn haben sie nicht.
Tatsächlich bleibt die Staatsmacht angesichts der Proteste nicht ganz tatenlos. Sie streut Gerüchte, lässt warnen, ausländische Kräfte würden hinter dem Protest im Süden stecken, der Mossad! Es wird gemunkelt, der Süden wolle sich von Syrien abspalten. In Sweida bemühten sich nun manche, dem zu widersprechen, sagt Samia Daoud. Unter den Demonstranten sei ihr einer aufgefallen, der einen Spiegel mit sich trug, darauf die Aufschrift: "Wer steckt hinter den Protesten?" Jeder, der reinschaut.
ZEIT ONLINE | https://www.zeit.de/2023/38/syrien-baschar-al-assad-protest