Essen ist eine deutsche Clan-Hochburg. Zwar zeigt der intensive Einsatz der Polizei gegen kriminelle arabische Clans Wirkung – einige Mitglieder zeigen sich kooperativ. Doch nun kommt ein Problem hinzu, das die Sonderkommission vor neue Schwierigkeiten stellt.
Kürzlich hatte die Sonderkommission „Clan“ der Polizei Essen mit einem spektakulären Einsatz wieder einmal klargemacht, dass sie noch lange gebraucht wird. Am 5. Dezember verhinderte ein großes Aufgebot von Beamten der Hundertschaft ein Aufeinandertreffen zweier verfeindeter Clans, die sich offenbar zu einem Schlichtungsgespräch verabredet hatten. Anlässe hatte die Szene in den vergangenen Wochen immer wieder geliefert.
Es ging um Schlägereien auf offener Straße, ein Durchsuchungsbeschluss nach gemeinschaftlichem schweren Raub wurde vollstreckt mithilfe von Spezialkommandos, davor gab es eine Razzia in mehreren Gebäuden im Stadtgebiet mit vorläufigen Festnahmen.
Etwa 15.000 Angehörige türkisch-arabischstämmiger Familienclans leben allein in Essen, beim Großteil von ihnen soll es sich um sogenannte Mhallamiye-Kurden handeln. Sie haben ihre Wurzeln in der Südosttürkei und waren während des Bürgerkriegs im Libanon zwischen 1975 und 1990 nach Deutschland geflohen.
Von den 15.000 Personen sind nach Erkenntnissen der Polizei nur eine kleine Minderheit, etwa 600 Personen, kriminell und für durchschnittlich 800 Straftaten pro Jahr verantwortlich. Es geht um Drogengeschäfte, Geldwäsche, Glücksspiel, Sozialleistungs- und Steuerbetrug, illegalen Waffenbesitz, schwere Körperverletzung, Revierdominanz und Ehrverletzungen. „Unsere polizeilichen Maßnahmen richten sich nur gegen den kriminellen Teil der Clanfamilien. Der Großteil der Familien bleibt von unserem Handeln unbehelligt“, so der BAO-Leiter.
Essen als zweitgrößte Stadt im Ruhrgebiet ist ein Clan-Hotspot, ähnlich wie Berlin und Bremen. Die Struktur in NRW ist wesentlich komplexer, wie ein Lagebild des Landeskriminalamts darlegt. Als die Übersicht im Mai 2019 vorgestellt wurde, hatten die Ermittler landesweit zunächst 104 Familienclans identifiziert.
Mittlerweile sind es 111, die vor allem im Ballungsraum des Ruhrgebiets leben, aber auch in angrenzende, dünner besiedelte Regionen gezogen sind. Die Probleme mit kriminellen Clan-Strukturen sind bereits einige Jahre bekannt. Es gab frühe vereinzelte Bemühungen von Polizeibehörden, etwa in Essen und Duisburg, dagegen vorzugehen. Erst nach dem Regierungswechsel 2017 hat die schwarz-gelbe Landesregierung daraus einen landesweiten Schwerpunkt gemacht, nachdem NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) eine „Null-Toleranz-Strategie“ verfügt hatte.
Die Konzentration des Landeskriminalamts auf Familiennamen war hilfreich, um Strukturen zu rekonstruieren und eine umfassende Übersicht zu erstellen, auch wenn dies die Gefahr einer Stigmatisierung birgt. Bei Clankriminalität werde bei der Tatbegehung „bewusst die gemeinsame familiäre oder ethnische Herkunft als verbindende, die Tatbegehung fördernde oder die Aufklärung hindernde Komponente einbezogen“, so beschreibt es das NRW-Innenministerium.
„Wir lernen ihre Spielregeln kennen“
Dass ein solcher Ansatz politisch angreifbar ist, bekam die Polizei im Herbst zu spüren, als während einer bundesweiten Kontroverse um Rassismusvorwürfe bei der Polizei, speziell in Essen, eine interne Clan-Broschüre bekannt wurde.
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Daraufhin machte die Polizei Essen die Broschüre öffentlich, um zu demonstrieren, dass der Inhalt aus ihrer Sicht unproblematisch ist.
Darin heißt es unter anderem: „Auf eine stetige Abgrenzung zwischen Clanmitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten und solchen, die es nicht sind, muss an dieser Stelle verzichtet werden.“ Grundlegende Denkmuster seien häufig auch bei Familienmitgliedern verankert, die nicht kriminell auffällig seien, weil auch bei Kenntnis über Kriminalität einzelner Familienmitglieder geschwiegen werde.
Andererseits wird in der Broschüre auf Differenzierung geachtet: Es sei „selbstverständlich, dass sich alle hier niedergelegten Betrachtungen und Maßnahmen auf kriminelle Clanmitglieder beziehen und keine Handreichung im Sinne von ethnic profiling darstellen“.
Polizeipräsident Richter kann Kritik am Inhalt nicht nachvollziehen. Die Broschüre sei wissenschaftlich ausgearbeitet und solle bei den Einsätzen eine Hilfestellung sein, betont er. „Wir konzentrieren uns als Polizei allein auf den kriminellen Teil der Clanmitglieder und lernen dadurch ihre Spielregeln, ihre Kultur kennen“, betont Richter. Die BAO Clan stehe im ständigen Austausch mit Kollegen aus Berlin, Bremen und auch der schwedischen Polizei, wo das Clanproblem wesentlich dramatischer sei.
Clan-Experte: „Es wird immer schlimmer“
Mitten in Berlin sind bei einem Schusswechsel mehrere Menschen verletzt worden. Die Mordkommission ermittelt. Über die Hintergründe gibt es noch keine näheren Angaben, vieles deutet jedoch auf Clan-Kriminalität hin.
Richter erinnert daran, dass in den vergangenen Jahren eine ausreichende Konsequenz in der Politik gefehlt habe, weil es lange Zeit Befürchtungen gegeben habe, dass ein solches Vorgehen als Rassismus verstanden werden könnte. „Aber die Polizei hat die Aufgabe, Gefahren abzuwehren und Straftaten zu verfolgen“, erklärt Richter.
Dabei geht es auch um ein kleinteiliges Vorgehen, dass NRW-Innenminister Reul als „Strategie der 1000 Nadelstiche“ geprägt hat. Die BAO kontrolliert nach eigenen Angaben 300 Objekte, von denen 275 keine Bezüge zu Clan-Namen haben. Es gibt pro Jahr an die 200 Einsätze im Jahr mit Hundertschaften. Dazu gehören regelmäßige Razzien von Shisha-Bars auch in Essen, die teilweise als Rückzugsorte für Kriminelle und zur Geldwäsche dienen. Manchmal werden lediglich einige Kilo unversteuerten Tabaks beschlagnahmt.
Polizeipräsident Richter betont, dass auch diese kleinen Erfolge wichtig seien. „Wir müssen präsent bleiben und klarmachen, dass wir auch geringe Vergehen nicht durchgehen lassen. Manche Erfolge sind spektakulärer, als sie zunächst erscheinen“, sagt Richter.
In einem Fall etwa hat die Stadtverwaltung festgestellt, dass 82 Personen eines Hauses falsche Adressen angegeben hatten und unberechtigterweise Hartz-IV-Leistungen bezogen. Dadurch war ein Schaden von etwa 50.000 Euro im Monat entstanden. „Das ist sozialschädliches Verhalten. Wir können eine solche Plünderung der Sozialsysteme nicht zulassen.“
Neue Revierkämpfe zwischen kriminellen Banden
Ein wesentliches Prinzip im Kampf gegen die Clan-Kriminalität ist die Vernetzung verschiedener Behörden. Nach Ansicht von Polizeipräsident Richter ist es zielführend und entscheidend, wenn die unterschiedlichsten Stellen zusammenarbeiten und die Schreibtische zusammenschieben. „Die Polizei arbeitet mittlerweile eng mit der Staatsanwaltschaft, den Finanzämtern, dem Zoll und den Kommunalämtern zusammen.“
Es gehe um viele unterschiedliche Delikte, Straftaten, Steuerdelikte, Sozialbetrug. Nach Ansicht von Richter würde es die Zusammenarbeit wesentlich erleichtern, wenn man Daten leichter austauschen könnte. „Bei der Clanbekämpfung wird deutlich, dass Datenschutz auch Täterschutz ist.“
In Nordrhein-Westfalen beobachtet die Polizei, dass das Clan-Problem komplizierter wird. Das LKA hat frühzeitig gewarnt, dass neue Großfamilien irakischer und syrischer Herkunft der bestehenden türkisch-libanesischstämmigen Szene Konkurrenz machen wollen. In Essen ist es offenbar im November zu entsprechenden Auseinandersetzungen gekommen. In Berlin registrieren die Sicherheitsbehörden, dass tschetschenische Gruppierungen in die kriminellen Reviere eindringen.
„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es Tote gibt“
Essens Polizeipräsident Richter warnt grundsätzlich davor, Clankriminalität nur als vorübergehendes Phänomen zu betrachten: „Wer glaubt, dass sich solche über Jahre verfestigten Strukturen in kurzer Zeit beseitigen lassen, der täuscht sich. Wir werden einen langen Atem brauchen.“
https://www.welt.de/politik/deutsch...itglieder-haben-ihre-Strategie-geaendert.html