Petra Erler und Günter Verheugen über die deutsche Einheit und den Ukraine-Krieg.
Petra Erler:
Wenn man sich den deutschen Einigungsprozess anguckt, stellt man fest, dass es damals zwei Optionen gab: Eine transatlantische Sicherheitsstruktur von Wladiwostok bis Vancouver. Das war der Geist dessen, was die Europäer und auch die Amerikaner 1990 noch unterschrieben.
Die zweite Option war, die Russen auszugrenzen und die Nato zu erweitern und damit eine westeuropäisch-transatlantisch dominierte Sicherheitsstruktur zu schaffen. 1994 war die Entscheidung klar.
Die Nato wollte bestimmen, wie Sicherheit sich in Europa definiert und umgesetzt wird. Russland wurde nach außen gedrängt, und alle Versuche, Russland wieder auf einer gleichberechtigten Grundlage ins Gespräch zu bringen, sind gescheitert.Und wenn die Nato heute sagt, wir haben ein Bündnis, das offen für alle ist, mag das gut und schön sein. Für ein Land galt es nicht, und das war Russland.
Günter Verheugen: Seit 1989, also seit die Möglichkeit der deutschen Einigung sichtbar wurde, stand nicht das deutsche oder europäische Interesse im Vordergrund, sondern eindeutig das amerikanische.
Petra Erler: Die Antwort ist in Washington zu suchen. Als es 1990 die Option gab, eine gemeinsame Sicherheitsstruktur zu schaffen, war das noch die Politik des alten Präsidenten Bush Senior.
Aber schon in den Spätzügen seiner Präsidentschaft gab es Leute, die Russland am liebsten zerstören wollten, die den Zerfall der Sowjetunion gerne zum Ausgangspunkt genommen hätten, auch Russland zu erledigen. Dahinter versteckt sich jahrzehntelanger, ideologisch bedingter Russenhass.
Petra Erler: Selbstverständlich hat Russland eine Mitverantwortung. Russland hat 2014 die Krim annektiert, und Russland hat 2022 zum kriegerischen Mittel gegriffen und damit einen Grundsatz verletzt, den es bis dahin im UNO-Sicherheitsrat energisch verteidigt hatte, nämlich das Prinzip des Gewaltverzichts gegenüber jedem anderen Staat.
Die Frage ist nur: Warum ist das propagandistisch in unserem Land plötzlich als Spezialverbrechen behandelt worden? Die Geschichte seit 1991 ist eine Geschichte von Regime-Changes und Kriegen, die allesamt vom Westen ausgingen. Warum wurde das Verhalten Russlands dann plötzlich als der Bruch einer angeblichen europäischen Sicherheitsordnung bezeichnet? Als Beispiel für eine imperiale russische Aggression? Dafür gibt es keine Belege.
Hier zeigt sich, dass diejenigen, die schon 1991 davon träumten, Russland ein für alle Mal kleinzumachen, längst die geistige Oberhoheit gewonnen hatten.
Günter Verheugen: Wenn man betrachtet, wann, wie und wo die Krise, in der wir uns heute befinden, wirklich heiß und explosiv wurde, dann kommen wir in die Jahre 2013 und 2014. Dann sind wir beim sogenannten Maidan, der von vielen jubelnd begrüßt wurde, aber in Wahrheit nichts anderes war als eine Regime-Change-Operation. Man kann auch sagen, ein von außen gelenkter Staatsstreich.
Und dieser Staatsstreich, dieser Putsch in der Ukraine, war der Ausgangspunkt eines Bürgerkrieges in diesem Land. Wir haben Krieg in der Ukraine nicht erst seit 2022. Wir haben diesen Krieg seit Frühjahr 2014, seit der sogenannten Anti-Terror-Operation gegen die russischen Separatisten im Donbass.
Petra Erler:
Wir reißen die Ukraine aus dem russischen Orbit, können ganz nah mit unseren militärischen Strukturen an Russland heranrücken und werden auf diese Art und Weise Russland ins Herz treffen. Das war die Überlegung. Und wir wissen auch, dass der russische Präsident Putin damals ganz deutlich gesagt hat, er wolle sich keine Situation vorstellen, in der Russland gezwungen sein könnte, seine Waffen gegen die Ukraine zu richten.
Aus dem Jahr 2014 wiederum wissen wir, dass Russland den Separatismus im Donbass keineswegs zum Anlass genommen hat, diese Gebiete zu annektieren. Er hat das sogar ausdrücklich abgelehnt und war bereit, auf dem Weg des Minsker Abkommens eine friedliche Lösung mit dem Westen zu finden.
Günter Verheugen: Im Augenblick ist nicht die Stunde der Diplomatie. Es ist ganz eindeutig, dass sich die Reihen des Westens immer fester schließen. Die jüngsten Entscheidungen lassen für mich nur den Schluss zu, dass die Eskalationsbereitschaft ungebrochen ist. Der jüngste Schritt, der Ukraine zu erlauben, mit vom Westen gelieferten Waffen das russische Staatsgebiet zu treffen, ist in meinen Augen der bisher gefährlichste Schritt in Richtung auf den Abgrund. Deshalb sieht es im Augenblick nicht so aus, als wollte der Westen der Diplomatie eine Chance geben.Ich glaube, dass im Westen seit Jahrzehnten das russische Sicherheitsbedürfnis massiv unterschätzt wird.
Der Westen hat bei Russland immer Aggressionsabsichten vermutet, umgekehrt natürlich auch. Ich glaube nicht, dass das berechtigt war. Was die sowjetische und später die russische Außenpolitik bestimmt hat, ist die historische Erfahrung dieses Landes. Und die besteht darin, dass es überfallen werden kann und dass man deshalb für seine Sicherheit sorgen muss.
Petra Erler: Zunächst würde ich mir wünschen, dass die deutsche Politik wieder zurückkehrt zu einem Realitätsverständnis und nicht länger in einer Fantasiewelt lebt. Wer überzeugt ist, Russland habe es sich auf die Agenda gesetzt, die Nato zu überfallen, gibt eigenen Ängsten und eigenen Fantasien nach oder versucht, ein Programm der Kriegstüchtigkeit durchzuziehen.
Günter Verheugen:Ich glaube schon, dass Russland ein Interesse an einer Verhandlungslösung hat. Es kann ja nicht langfristig im russischen Interesse liegen, mit dem Westen in einem Dauerkonflikt zu leben. Die Welt verändert sich ja nicht nur für uns, sie verändert sich auch für Russland. Und Russland ist genauso wie wir auf internationale Kooperation angewiesen. Also ich glaube schon, dass da ein Interesse besteht.
Petra Erler: Der Kern des Konfliktes ist ja nicht die Ukraine, sondern es geht darum, ob Russland in Europa eine gleichberechtigte Stimme hat, ob wir bereit sind, elementare russische Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.
Und deswegen war das Verhandlungsergebnis vom Frühling 2022 auch so interessant – was bei möglichen diplomatischen Kontakten niemand vergessen sollte. Russland hätte sich aus dem Donbass zurückgezogen, es hätte über die Krim und ihre Zukunft Gespräche geführt.
Im Gegenzug dazu war festgelegt, wie viel Militär es in der Ukraine noch geben sollte, und dass die Ukraine neutral bleibt. Das war das, was Russland wollte. Das bestätigen auch alle ukrainischen Verhandlungsteilnehmer.
Und das war uns nicht gut genug. Wir wollten es ausgekämpft haben, und das verändert natürlich die Natur des Kampfes. Das bedeutet, wir haben die Strategie "Siegfrieden" und haben uns der ukrainischen Gesetzeslage angeschlossen, wonach mit Putin nicht verhandelt wird. Solange wir diese Gesetzeslage unterstützen, kann auch niemand im Westen mit Putin verhandeln.
Auf der anderen Seite möchte ich zu bedenken geben, dass wir vor einem Scherbenhaufen des Vertrauens sitzen. Putin und Russland waren ja im Dezember 2021 mit Verhandlungsvorschlägen gekommen, die die Nato ganz kühl abgebürstet hat. Sie mussten feststellen, dass wir beim Minsker Abkommen betrogen haben. Und heute, angesichts der vielen feindseligen politischen Äußerungen, kann der Westen aus russischer Sicht gar nicht als Freund oder als akzeptabler Verhandlungspartner erscheinen.
Wenn wir Verhandlungen wollen und nicht in den nächsten 30 Jahren vor Angst zittern und uns, unsere Kinder und Enkel einmauern, dann müssen wir uns in unserer Tonart mäßigen.