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1990 arbeitete ich als Schwesternschuelerin in einem staedtischen Krankenhaus. Dort befand sich auch Herr Ernst F., damals 92 jaehrig, der aufgrund eines komplizierten Oberhalsschenkelbruches, nicht mehr nach Hause entlassen werden konnte. Er wartete auf die Ueberfuehrung in ein Pflegeheim. Immer wenn ich Zeit hatte, leistete ich diesem Senior Gesellschaft. Kurz bevor er das Pflegeheim verliess, uebergab mir Ernst F. seine Aufzeichnungen. Sie behandelten das Thema 1. und 2. Weltkrieg. Ich werde es hier auszugsweise zitieren:
" Geboren bin ich 1898, begann der alte Mann seine Geschichte, " ich komme aus dem schönen Berlin. Damals kaiserliche Weltstadt. Mein Vater war Schneidermeister am Hofe des Kaiser Wilhelm. Es ging uns gut und wir, meine 4 Brüder und ich, durften alle studieren. Ich sollte später Kapellmeister werden. Ich weis noch wie ich als Kind zusammen mit meinem bekannten Vater im Dampfzug nach Wien gefahren bin.
Mein Vater war so gefragt, dass ihn sogar Kaiser Franz Joseph Aufträge erteilte. Als ältester seiner 5 Söhne, durfte immer ich ihn begleiten.
Am Kaiserhof der K und K Monarchie herrschte stets geschäftige Aufregung wenn mein Vater eintraf. Er galt seinerzeit als sehr gefragter Modedesigner, auch wenn dieser Begriff damals noch nicht üblich war. Selbst für die in meinem Geburtsjahr verstorbene Kaiserin Sissi hatte mein Vater 2 oder 3 Ballkleider entworfen und war seitdem öfters nach Wien gerufen worden. Auch 1912 noch, als der Kaiser, der inzwischen ein alter und einsamer Mann geworden war, einen besonderen Frack verlangte. Während der Anprobe für jenen besagten Frack bin ich Durchlaucht zum ersten Mal gegenüber gestanden. Er hat mich nach meiner Schule gefragt und dann, ob ich Soldat werden wolle. Nein, sagte ich, Soldat werden möchte ich nicht.
Nach der Anprobe hat der Kammerdiener den geschwächten Kaiser in seine Räume zurückgeführt und das Gespräch war darum vorzeitig zu Ende.
Kaiser Wilhelm II war um einiges jünger als der K u K Monarch. Als ich einige Jahre später seinetwegen mit dem Gesicht im Dreck lag oder auf andere Nationen feuern musste, habe ich sowohl ihn als auch den Österreicher verflucht.
Der Krieg fing im September 1914 an. Ich weis noch, wie unser Klassenlehrer Högel, den Mord an den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand durch einen serbischen Anarchisten, für den ausgebrochenen Krieg verantwortlich machte.
Ich kann mich noch erinnern wie ich dann mit meinen zwei besten Schulfreunden, Kremer und Peters im Schulhof darüber diskutierte, was wäre, wenn Krieg kommt und keiner hin ginge...
Wir waren erst 16 als sich die ersten Freiwilligen aus unserer Klasse meldeten um in den Krieg zu ziehen.
Unser Lehrer ermutigte die ganze Klasse zum Einrücken und sprach von Vaterlandspflicht und vom Verrat wer nicht teilnahm.
Als ich an diesem Tag nach Hause kam, nahm mich der Vater schon an die Seite und sagte: "Ernst es ist soweit, du mußt Deine Pflicht tun."
So wurde ich mit 16 in den Krieg geschickt.
Zuerst gab es eine 6 wöchige Ausbildung bei einem Feldwebel, der im Zivilberuf Strassenmeister gewesen war. Er hiess Herr Notdurft und wir machten uns stets über seinen Namen lustig. Da er uns hart und eisern drillte, selbst aber nicht bereit war seine Uniform auch nur einmal zu beschmutzen, fingen wir an, ihn zu foppen und einmal, das weiss ich noch gut, haben wir ihm aufgelauert, als er von einem Zechgelage kam und ihn ordentlich verdroschen. Er bekam von meinen 7 Zimmergenossen und mir die Rübe ordentlich voll. Wir lachten als er in Hemd und Unterhose vor uns stand und um Gnade winselte. Jeder von uns verpasste ihm einen ordentlichen Fusstritt und einen scharfen Kinnhaken. Anschliessend liessen wir Notdurft im Hinterhof liegen und dort konnte er seinen Rausch auschlafen. Die Geschichte nahm am nächsten Tag ein unerfreuliches Ende, da wir zur Strafe vorzeitig an die Front geschickt wurden.
Wir kamen nach Flandern.
Als wir im Feld ankamen, tobte der Krieg. Wir standen hilflos und ängstlich vor den Unterständen und die Artillerie schoss so laut, dass wir unsere Worte nicht mehr hörten.
Meine 7 Kameraden und ich hielten zum erstenmal ein Gewehr in den Händen und wussten überhaupt nicht was tun.
Dumpf ertönten die Kommandorufe unseres Anführers, aber wir waren zu erschrocken um schnell zu reagieren.
Ich stand hinter einem Holzpfosten und sah 3 meiner 7 Kameraden durch die Luft wirbeln. Sie waren sofort tot.
Erstarrt stand ich immer noch regungslos hinter dem Pfosten der mir das Leben gerettet hatte und irgend jemand riss mich in einen Trichter.
Dort wurde ich von zwei starken Armen auf die Erde gepresst und der Krieg ertönte so laut, dass ich nichts mehr hörte und sah. Staub wirbelte durch die Luft und die Erde zitterte im Trommelfeuer. Als mich mein Kamerad Gneis endlich losliess und ich aus dem Trichter kriechen durfte, war es tiefe Nacht geworden. Das Trommelfeuer hatte aufgehört und wir, die wenigen Überlebenden dieses französischen Angriffs, zogen uns unter die Erde zurück. Wir assen das Brot und die Wurst, die in unseren Rucksäcken steckten und tranken haufenweise Korn. Korn, der Seelentröster... Wir rauchten und ich sah in die verschmutzten und ängstlichen Gesichter meiner 2 noch lebenden Kameraden. 5 von 7 hatte es erwischt. Wir sassen und sprachen nichts. Auch die anderen, viel älteren Soldaten schwiegen. Sie hatten ausgemergelte Gesichter, unrasierte Bärte... schmutzige Uniformen.
Wir schliefen im Sitzen ein. Am nächsten morgen gab es eine dünne Mehlsuppe und dann sassen wir wieder vor dem Unterstand und warteten auf den Feind.
Er kam nicht und die Spannung, gepaart mit Angst, schnürte uns die Kehlen zu. Wir spielten Karten, aber nur die ältesten Soldaten waren abgebrühte Hasen und der Krieg schien ihnen nichts mehr auszumachen. "Ich will nach Hause" brüllte Körner, mein Schulkamerad, plötzlich. Dann fing er zum Schreien an.
Ewers, der 35 jährige Leutnant, stand auf und schlug zu, damit mein Kamerad nicht ganz durchdrehen sollte.
Körners, unser ehemaliger Primus, wurde indessen immer hysterischer und brüllte mittlerweile wie am Spieß. Dann rannte er jäh aus dem Unterstand und sprang über die aufgetürmten Säcke, die uns von den feindlichen Linien trennten. Schreiend lief er ins offene Feld. Auf einmal ein Schuss und Körners, ein 16 jähriger, blonder Rekrute, fiel tot um.
Ich zitterte am ganzen Körper, als ich das sah und mir wurde fast schwarz vor den Augen...
"Achtung Giftgas" brüllte auf einmal jemand aus unserer Kompanie. Wir erhielten Gasmasken und mussten die blitzschnell aufsetzen. Ich war nicht schnell genug und grollend half mir unser Meldegänger, Küppers, die Gasmaske anzubringen...
Gelber Dampf stieg vom Boden auf und wir rührten uns nicht vom Fleck. Ich hatte mittlerweile so Angst, dass ich fast nicht mehr atmen konnte.
Die Maske drückte aufs Gesicht, schnürte die Luft ab.
Jäh setzte die Artillerie wieder ein. Ich schoss wie mir befohlen wurde auf alles was sich von gegnerischer Seite aus bewegte.
Dann sprang ich in einen Trichter und drückte mein Gesicht auf den schlammigen Boden...
Auf einmal fiel mir etwas auf den Rücken. Ein abgetrennter Arm. Ich weiss noch, wie ich vor Schreck geschrien habe. Das Trommelfeuer überdeckte meinen Schrei und ich blieb zitternd liegen bis es still wurde. Dann kroch ich aus dem Trichter und suchte meine Kompanie. Auf dem Weg zum Unterstand spürte ich einen starken Schmerz. Eine verirrte Kugel hatte mich erwischt und mein Bein blutete stark. Auf den Bauch kriechend, schleppte ich mich voran.
Grobe, ein älterer Kriegskamerad, sah mich als erster. Sie packten mich auf eine Tragbahre und brachten mich noch in der Nacht ins Lazarett. Das Lazarett lag etwas weiter von den feindlichen Linien entfernt. Grobe und Levis zogen ab und überliessen mich meinem Schicksal. Ich lag lange auf einer schmutzigen Bahre und niemand kümmerte sich zunächst um mich. Um mich herum wimmerten und schrien andere Soldaten. Der Geruch von Eiter und Blut erfüllte das Zelt. Ärzte und Schwestern rannten herum und immer neue Verwunderte wurden hereingetragen. Gegen Mitternacht nahm man sich mir endlich an und entfernte die Kugel aus meinem Unterschenkel. Ich hatte Glück und musste mein Bein nicht amputieren. Ich wurde verbunden und die Kugel hatte den Knochen und das Kniegelenk so verletzt, dass ich tagelang nicht mehr allein gehen konnte. So musste mich immer jemand stützen. Wenn es mal niemand gab, musste ich auf einem Bein hüpfend allein auf die Toilette gehen. Schnell verlor ich dann das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Krücken gab es im Lazarett nicht.
Nur wenige Stunden nach mir wurde unser Leutnant Hinrichs mit einem Lebensgefährlichem Bauchschuss ins Lazarett gebracht. Er lebte nur noch wenige Stunden. Bevor er starb, standen wenige Kameraden um ihn herum und stritten sich um seine Stiefel. Albrecht, der beste Kamerad unseres dahinscheidenden Leutnants, sollte sie bekommen. Er stammte wie Hinrichs aus Saarbrücken. Ich lag auf meiner Pritsche neben dem sterbenden Hinrichs und war fassungslos ob so viel Skrupellosigkeit. "Wie könnt ihr nur so pietätslos sein?" fragte ich Steiner, Niehäus und Albrecht. "Er braucht die Stiefel nicht mehr, war die schlichte Antwort, wir aber müssen noch marschieren" Während Albrecht dem Sterbenden die Stiefel auszog, lag dieser plöztlich ruhig und mit starren Augen auf dem Feldbett. Seine Uniform war blutig. Kein Arzt hatte ihn behandelt. Bei Bauchschüssen machte man nichts. Man legte seinen Schwerpunkt auf die Fälle, die überleben konnten. Diese wurden meist ohne Betäubung operiert und amputiert. Es gab nur wenig Morphium und Aether im Lazarett. Diese wurden für die Offiziere aufbewahrt.
Als ich etwas kräftiger wurde, mein Bein aber vom Knie ab steif geblieben war, wurde ich zusammen mit anderen Kriegsversehrten in ein Kloster an der französischen Grenze gebracht. Deutsche Mönche kümmerten sich um die Kriegsgeschädigten.
Wir waren 20 Invaliden und bekamen von den Mönchen zu essen und sie beteten mit uns.
ich weiss noch, wie ich Stadler kennenlernte. Stadler war einer von uns 20 Invaliden und sass neben mir im Zug. Er war 2 Tage verschüttet gewesen und darum psychisch erkrankt. Meist sass er teilnahmslos da und wenn er überhaupt noch etwas sagte, dann hatte es was mit seiner Verschüttung zu tun.. Er stand dann auf, fing aus heiterem Himmel an zu Schreien und mit den Armen herumzuwedeln. So als wolle er sich aus der Erde herausbuddeln.
Mit ihm konnte man nicht reden, denn er war nicht mehr da.
Dann gab es August: Eine Granate hatte sein Gesicht zerfetzt und es fehlte ihm das linke Auge. Wenn er aas konnte er den Mund nicht mehr richtig aufmachen.
Sein Gesicht war vernarbt und schief. Sprechen konnte er undeutlich und niemand verstand ihn richtig.
Koschig ein 40 jähriger, alter Hase, hatte bei einem Giftgasangriff sein Augenlicht verloren.
Vielen Anderen fehlte ein Arm oder ein Bein. Es gab damals keine Prothesen und so konnten diese Männer nicht mehr gehen...
Die Mönche stützten sie, so gut es ging.
Bei den Mönchen ging es mir gut. Ich kam bald wieder zu Kräften und auch mein Bein wurde besser, wenn man davon absieht, dass das Knie steif blieb und ich darum einen schleifenden und schiefen Gang beibehalten hatte. Die Behinderung war schwer genug, als dass ich nicht mehr in den Kriegsdienst eingezogen werden konnte. Ich half den Mönchen so gut es ging bei der Arbeit und lernte Kühe und Schafe melken, Käsen und Buttern. Ich lernte wie man ein Feld pflügte und wie man Gemüse und Kartoffeln anbaute. Ich half überall mit und war einer der wenigen Kriegsversehrten, die aktiv im Kloster mitarbeiteten. Nur beim Töten der Hühner und Schafe half ich nicht. Zu sehr musste ich dann daran denken, dass ich einst auf Menschen geschossen hatte. Auch mit dem Fleisch hatte ich Probleme. Mir wurde jedesmal, wenn ich ein Tier essen musste, schlecht und darum verzichtete ich nach wenigen Wochen auf jede Art von Fleisch.
Die meisten meiner ehemaligen Kameraden vegetierten mehr oder weniger in ihren kargen Zellen und bei den Mahlzeiten dahin und bemerkten das nicht. Sie waren entweder körperliche Vollinvaliden oder Fälle für die Psychiatrie. Die fast vier Jahre unseres Kloster Aufenthaltes im Elsass änderten das nicht. Ich dachte oft an die Familien dieser bedauernswerten Männer und spürte mit jenen tiefstes Mitgefühl. 1918, nach Kriegsende, wurde das Kloster aufgelöst und die Mönche zogen ab. So ging es auch für mich nach Berlin zurück. Als ich in mein Elternhaus kam, das in der Nähe des ehemaligen, kaiserlichen Hofes stand, fand ich niemand mehr vor. Der Kaiser war ins Exil gegangen. Ich wusste nicht wo sich meine Familie aufhielt und war sehr traurig darüber. Dann aber traf ich den ehemaligen Stallmeister meines Vaters und von diesem erfuhr ich, dass meine Familie bei der Schwester meiner Mutter in Schlesien untergekommen war. Ich machte mich auf den Weg dorthin und ich brauchte in den Unruhen der Nachkriegszeit viele Tage bis ich endlich in Oels angekommen war. Ausgehungert und müde fand ich das heruntergekommene Landgut meiner Tante und fiel an der Pforte erschöpft zu Boden. Mein Bruder Achim, der zweitjüngste von uns 5, brachte mich zu Bett und ich weiss noch, dass ich sofort eingeschlafen bin. Dann erschien meine Mutter und ich blickte in das Gesicht einer vorzeitig gealtern Frau. Meine Mutter war vor dem Krieg eine elegante Erscheinung gewesen. Nun sah man in ihr nur mehr Armut und ausgezehrte Züge. Sie nahm mich weinend in die Arme und ich erfuhr, dass meine Brüder: Ludwig, Anton und Siegfried, nicht mehr lebten. Auch mein Vater war tot. Er war wenige Monate zuvor an der spanischen Grippe gestorben. Wir setzten uns an den bescheidenen Holztisch der armseeligen Kate und aaßen Kartoffeln mit Butter. Später kehrte Tante Hanne vom Tauschmarkt zurück. Sie hatte zwei lebende Hühner und ein grosses Stück Speck mitgebracht. Den Speck schnitt sie gleich auf und dazu gab es eine Brotscheibe für jeden.
Ich konnte immer noch kein Fleisch essen und lehnte den Speck ab. In einer Zeit des Hungerns und wo es schwer war Nahrung zu besorgen, verstand das niemand. Sie dachten ich sei krank und machten sich die grössten Sorgen. Am nächsten Tag sollte ich die Hühner schlachten, da meine Tante und mein Bruder im Wald waren. Mutter war kränklich und hätte auch aufgrund ihres feinen Gemütes diese Arbeit nicht machen können.
Die Hühner sahen mich neugierig an: Ein weises und ein schwarzes Legehuhn. Ich dachte ihre Gedanken zu lesen zu können und in ihre Seelen zu blicken. Dann spürte ich aufeinmal tiefes Mitleid. Erneut tauchte die Szene auf, wo ich etwa 10 Männer erschossen hatte. An ein Gesicht konnte ich mich noch genau erinnern. Es gehörte einem französischen Jungen. Ich hatte ihn so erwischt, dass er noch zappelte als er blutend am Boden lag. Ich habe ihn schwer mit einem Bajonett verletzt als ich vom Trichter ausgestiegen war und er unbewaffnet, weil er mit mir nicht gerechnet hatte, vor mich hingetreten war. Ich habe also einen wehrlosen Menschen erstochen... Aus Angst, dass er mir was tut.
Ekel und Trauer packten mich bei der Erinnerung. Ich nahm die beiden Hühner links und rechts auf meinen Arm und versteckte sie in der Scheune. Fest entschlossen sie jeden Tag zu füttern. Als es nur trockene Kartoffeln zum Mittagessen gab, zeterte meine Tante wie eine Furie. Ich erklärte, dass ich die Hühner freigelassen hatte, weil ich kein Mörder bin. Mein Bruder und meine Tante hielten mich für geisteskrank und meine Mutter schüttelte weinend den Kopf. Ich glaube das war der Tag an dem meine Familie mit mir endgültig brach und auch ich ihr nicht mehr in die Augen sehen konnte. Liess ich doch meine kränkliche Mutter für ein Ideal hungern. Fortan wurde ich wie ein Sonderling behandelt und meine Tante schlachtete ihr Vieh nun selber, es sei denn ich konnte es ihr vorher wegnehmen, was mir immer wieder mal gelungen ist. Das Ende vom Lied: Sie jagde mich vom Hof.
" Geboren bin ich 1898, begann der alte Mann seine Geschichte, " ich komme aus dem schönen Berlin. Damals kaiserliche Weltstadt. Mein Vater war Schneidermeister am Hofe des Kaiser Wilhelm. Es ging uns gut und wir, meine 4 Brüder und ich, durften alle studieren. Ich sollte später Kapellmeister werden. Ich weis noch wie ich als Kind zusammen mit meinem bekannten Vater im Dampfzug nach Wien gefahren bin.
Mein Vater war so gefragt, dass ihn sogar Kaiser Franz Joseph Aufträge erteilte. Als ältester seiner 5 Söhne, durfte immer ich ihn begleiten.
Am Kaiserhof der K und K Monarchie herrschte stets geschäftige Aufregung wenn mein Vater eintraf. Er galt seinerzeit als sehr gefragter Modedesigner, auch wenn dieser Begriff damals noch nicht üblich war. Selbst für die in meinem Geburtsjahr verstorbene Kaiserin Sissi hatte mein Vater 2 oder 3 Ballkleider entworfen und war seitdem öfters nach Wien gerufen worden. Auch 1912 noch, als der Kaiser, der inzwischen ein alter und einsamer Mann geworden war, einen besonderen Frack verlangte. Während der Anprobe für jenen besagten Frack bin ich Durchlaucht zum ersten Mal gegenüber gestanden. Er hat mich nach meiner Schule gefragt und dann, ob ich Soldat werden wolle. Nein, sagte ich, Soldat werden möchte ich nicht.
Nach der Anprobe hat der Kammerdiener den geschwächten Kaiser in seine Räume zurückgeführt und das Gespräch war darum vorzeitig zu Ende.
Kaiser Wilhelm II war um einiges jünger als der K u K Monarch. Als ich einige Jahre später seinetwegen mit dem Gesicht im Dreck lag oder auf andere Nationen feuern musste, habe ich sowohl ihn als auch den Österreicher verflucht.
Der Krieg fing im September 1914 an. Ich weis noch, wie unser Klassenlehrer Högel, den Mord an den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand durch einen serbischen Anarchisten, für den ausgebrochenen Krieg verantwortlich machte.
Ich kann mich noch erinnern wie ich dann mit meinen zwei besten Schulfreunden, Kremer und Peters im Schulhof darüber diskutierte, was wäre, wenn Krieg kommt und keiner hin ginge...
Wir waren erst 16 als sich die ersten Freiwilligen aus unserer Klasse meldeten um in den Krieg zu ziehen.
Unser Lehrer ermutigte die ganze Klasse zum Einrücken und sprach von Vaterlandspflicht und vom Verrat wer nicht teilnahm.
Als ich an diesem Tag nach Hause kam, nahm mich der Vater schon an die Seite und sagte: "Ernst es ist soweit, du mußt Deine Pflicht tun."
So wurde ich mit 16 in den Krieg geschickt.
Zuerst gab es eine 6 wöchige Ausbildung bei einem Feldwebel, der im Zivilberuf Strassenmeister gewesen war. Er hiess Herr Notdurft und wir machten uns stets über seinen Namen lustig. Da er uns hart und eisern drillte, selbst aber nicht bereit war seine Uniform auch nur einmal zu beschmutzen, fingen wir an, ihn zu foppen und einmal, das weiss ich noch gut, haben wir ihm aufgelauert, als er von einem Zechgelage kam und ihn ordentlich verdroschen. Er bekam von meinen 7 Zimmergenossen und mir die Rübe ordentlich voll. Wir lachten als er in Hemd und Unterhose vor uns stand und um Gnade winselte. Jeder von uns verpasste ihm einen ordentlichen Fusstritt und einen scharfen Kinnhaken. Anschliessend liessen wir Notdurft im Hinterhof liegen und dort konnte er seinen Rausch auschlafen. Die Geschichte nahm am nächsten Tag ein unerfreuliches Ende, da wir zur Strafe vorzeitig an die Front geschickt wurden.
Wir kamen nach Flandern.
Als wir im Feld ankamen, tobte der Krieg. Wir standen hilflos und ängstlich vor den Unterständen und die Artillerie schoss so laut, dass wir unsere Worte nicht mehr hörten.
Meine 7 Kameraden und ich hielten zum erstenmal ein Gewehr in den Händen und wussten überhaupt nicht was tun.
Dumpf ertönten die Kommandorufe unseres Anführers, aber wir waren zu erschrocken um schnell zu reagieren.
Ich stand hinter einem Holzpfosten und sah 3 meiner 7 Kameraden durch die Luft wirbeln. Sie waren sofort tot.
Erstarrt stand ich immer noch regungslos hinter dem Pfosten der mir das Leben gerettet hatte und irgend jemand riss mich in einen Trichter.
Dort wurde ich von zwei starken Armen auf die Erde gepresst und der Krieg ertönte so laut, dass ich nichts mehr hörte und sah. Staub wirbelte durch die Luft und die Erde zitterte im Trommelfeuer. Als mich mein Kamerad Gneis endlich losliess und ich aus dem Trichter kriechen durfte, war es tiefe Nacht geworden. Das Trommelfeuer hatte aufgehört und wir, die wenigen Überlebenden dieses französischen Angriffs, zogen uns unter die Erde zurück. Wir assen das Brot und die Wurst, die in unseren Rucksäcken steckten und tranken haufenweise Korn. Korn, der Seelentröster... Wir rauchten und ich sah in die verschmutzten und ängstlichen Gesichter meiner 2 noch lebenden Kameraden. 5 von 7 hatte es erwischt. Wir sassen und sprachen nichts. Auch die anderen, viel älteren Soldaten schwiegen. Sie hatten ausgemergelte Gesichter, unrasierte Bärte... schmutzige Uniformen.
Wir schliefen im Sitzen ein. Am nächsten morgen gab es eine dünne Mehlsuppe und dann sassen wir wieder vor dem Unterstand und warteten auf den Feind.
Er kam nicht und die Spannung, gepaart mit Angst, schnürte uns die Kehlen zu. Wir spielten Karten, aber nur die ältesten Soldaten waren abgebrühte Hasen und der Krieg schien ihnen nichts mehr auszumachen. "Ich will nach Hause" brüllte Körner, mein Schulkamerad, plötzlich. Dann fing er zum Schreien an.
Ewers, der 35 jährige Leutnant, stand auf und schlug zu, damit mein Kamerad nicht ganz durchdrehen sollte.
Körners, unser ehemaliger Primus, wurde indessen immer hysterischer und brüllte mittlerweile wie am Spieß. Dann rannte er jäh aus dem Unterstand und sprang über die aufgetürmten Säcke, die uns von den feindlichen Linien trennten. Schreiend lief er ins offene Feld. Auf einmal ein Schuss und Körners, ein 16 jähriger, blonder Rekrute, fiel tot um.
Ich zitterte am ganzen Körper, als ich das sah und mir wurde fast schwarz vor den Augen...
"Achtung Giftgas" brüllte auf einmal jemand aus unserer Kompanie. Wir erhielten Gasmasken und mussten die blitzschnell aufsetzen. Ich war nicht schnell genug und grollend half mir unser Meldegänger, Küppers, die Gasmaske anzubringen...
Gelber Dampf stieg vom Boden auf und wir rührten uns nicht vom Fleck. Ich hatte mittlerweile so Angst, dass ich fast nicht mehr atmen konnte.
Die Maske drückte aufs Gesicht, schnürte die Luft ab.
Jäh setzte die Artillerie wieder ein. Ich schoss wie mir befohlen wurde auf alles was sich von gegnerischer Seite aus bewegte.
Dann sprang ich in einen Trichter und drückte mein Gesicht auf den schlammigen Boden...
Auf einmal fiel mir etwas auf den Rücken. Ein abgetrennter Arm. Ich weiss noch, wie ich vor Schreck geschrien habe. Das Trommelfeuer überdeckte meinen Schrei und ich blieb zitternd liegen bis es still wurde. Dann kroch ich aus dem Trichter und suchte meine Kompanie. Auf dem Weg zum Unterstand spürte ich einen starken Schmerz. Eine verirrte Kugel hatte mich erwischt und mein Bein blutete stark. Auf den Bauch kriechend, schleppte ich mich voran.
Grobe, ein älterer Kriegskamerad, sah mich als erster. Sie packten mich auf eine Tragbahre und brachten mich noch in der Nacht ins Lazarett. Das Lazarett lag etwas weiter von den feindlichen Linien entfernt. Grobe und Levis zogen ab und überliessen mich meinem Schicksal. Ich lag lange auf einer schmutzigen Bahre und niemand kümmerte sich zunächst um mich. Um mich herum wimmerten und schrien andere Soldaten. Der Geruch von Eiter und Blut erfüllte das Zelt. Ärzte und Schwestern rannten herum und immer neue Verwunderte wurden hereingetragen. Gegen Mitternacht nahm man sich mir endlich an und entfernte die Kugel aus meinem Unterschenkel. Ich hatte Glück und musste mein Bein nicht amputieren. Ich wurde verbunden und die Kugel hatte den Knochen und das Kniegelenk so verletzt, dass ich tagelang nicht mehr allein gehen konnte. So musste mich immer jemand stützen. Wenn es mal niemand gab, musste ich auf einem Bein hüpfend allein auf die Toilette gehen. Schnell verlor ich dann das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Krücken gab es im Lazarett nicht.
Nur wenige Stunden nach mir wurde unser Leutnant Hinrichs mit einem Lebensgefährlichem Bauchschuss ins Lazarett gebracht. Er lebte nur noch wenige Stunden. Bevor er starb, standen wenige Kameraden um ihn herum und stritten sich um seine Stiefel. Albrecht, der beste Kamerad unseres dahinscheidenden Leutnants, sollte sie bekommen. Er stammte wie Hinrichs aus Saarbrücken. Ich lag auf meiner Pritsche neben dem sterbenden Hinrichs und war fassungslos ob so viel Skrupellosigkeit. "Wie könnt ihr nur so pietätslos sein?" fragte ich Steiner, Niehäus und Albrecht. "Er braucht die Stiefel nicht mehr, war die schlichte Antwort, wir aber müssen noch marschieren" Während Albrecht dem Sterbenden die Stiefel auszog, lag dieser plöztlich ruhig und mit starren Augen auf dem Feldbett. Seine Uniform war blutig. Kein Arzt hatte ihn behandelt. Bei Bauchschüssen machte man nichts. Man legte seinen Schwerpunkt auf die Fälle, die überleben konnten. Diese wurden meist ohne Betäubung operiert und amputiert. Es gab nur wenig Morphium und Aether im Lazarett. Diese wurden für die Offiziere aufbewahrt.
Als ich etwas kräftiger wurde, mein Bein aber vom Knie ab steif geblieben war, wurde ich zusammen mit anderen Kriegsversehrten in ein Kloster an der französischen Grenze gebracht. Deutsche Mönche kümmerten sich um die Kriegsgeschädigten.
Wir waren 20 Invaliden und bekamen von den Mönchen zu essen und sie beteten mit uns.
ich weiss noch, wie ich Stadler kennenlernte. Stadler war einer von uns 20 Invaliden und sass neben mir im Zug. Er war 2 Tage verschüttet gewesen und darum psychisch erkrankt. Meist sass er teilnahmslos da und wenn er überhaupt noch etwas sagte, dann hatte es was mit seiner Verschüttung zu tun.. Er stand dann auf, fing aus heiterem Himmel an zu Schreien und mit den Armen herumzuwedeln. So als wolle er sich aus der Erde herausbuddeln.
Mit ihm konnte man nicht reden, denn er war nicht mehr da.
Dann gab es August: Eine Granate hatte sein Gesicht zerfetzt und es fehlte ihm das linke Auge. Wenn er aas konnte er den Mund nicht mehr richtig aufmachen.
Sein Gesicht war vernarbt und schief. Sprechen konnte er undeutlich und niemand verstand ihn richtig.
Koschig ein 40 jähriger, alter Hase, hatte bei einem Giftgasangriff sein Augenlicht verloren.
Vielen Anderen fehlte ein Arm oder ein Bein. Es gab damals keine Prothesen und so konnten diese Männer nicht mehr gehen...
Die Mönche stützten sie, so gut es ging.
Bei den Mönchen ging es mir gut. Ich kam bald wieder zu Kräften und auch mein Bein wurde besser, wenn man davon absieht, dass das Knie steif blieb und ich darum einen schleifenden und schiefen Gang beibehalten hatte. Die Behinderung war schwer genug, als dass ich nicht mehr in den Kriegsdienst eingezogen werden konnte. Ich half den Mönchen so gut es ging bei der Arbeit und lernte Kühe und Schafe melken, Käsen und Buttern. Ich lernte wie man ein Feld pflügte und wie man Gemüse und Kartoffeln anbaute. Ich half überall mit und war einer der wenigen Kriegsversehrten, die aktiv im Kloster mitarbeiteten. Nur beim Töten der Hühner und Schafe half ich nicht. Zu sehr musste ich dann daran denken, dass ich einst auf Menschen geschossen hatte. Auch mit dem Fleisch hatte ich Probleme. Mir wurde jedesmal, wenn ich ein Tier essen musste, schlecht und darum verzichtete ich nach wenigen Wochen auf jede Art von Fleisch.
Die meisten meiner ehemaligen Kameraden vegetierten mehr oder weniger in ihren kargen Zellen und bei den Mahlzeiten dahin und bemerkten das nicht. Sie waren entweder körperliche Vollinvaliden oder Fälle für die Psychiatrie. Die fast vier Jahre unseres Kloster Aufenthaltes im Elsass änderten das nicht. Ich dachte oft an die Familien dieser bedauernswerten Männer und spürte mit jenen tiefstes Mitgefühl. 1918, nach Kriegsende, wurde das Kloster aufgelöst und die Mönche zogen ab. So ging es auch für mich nach Berlin zurück. Als ich in mein Elternhaus kam, das in der Nähe des ehemaligen, kaiserlichen Hofes stand, fand ich niemand mehr vor. Der Kaiser war ins Exil gegangen. Ich wusste nicht wo sich meine Familie aufhielt und war sehr traurig darüber. Dann aber traf ich den ehemaligen Stallmeister meines Vaters und von diesem erfuhr ich, dass meine Familie bei der Schwester meiner Mutter in Schlesien untergekommen war. Ich machte mich auf den Weg dorthin und ich brauchte in den Unruhen der Nachkriegszeit viele Tage bis ich endlich in Oels angekommen war. Ausgehungert und müde fand ich das heruntergekommene Landgut meiner Tante und fiel an der Pforte erschöpft zu Boden. Mein Bruder Achim, der zweitjüngste von uns 5, brachte mich zu Bett und ich weiss noch, dass ich sofort eingeschlafen bin. Dann erschien meine Mutter und ich blickte in das Gesicht einer vorzeitig gealtern Frau. Meine Mutter war vor dem Krieg eine elegante Erscheinung gewesen. Nun sah man in ihr nur mehr Armut und ausgezehrte Züge. Sie nahm mich weinend in die Arme und ich erfuhr, dass meine Brüder: Ludwig, Anton und Siegfried, nicht mehr lebten. Auch mein Vater war tot. Er war wenige Monate zuvor an der spanischen Grippe gestorben. Wir setzten uns an den bescheidenen Holztisch der armseeligen Kate und aaßen Kartoffeln mit Butter. Später kehrte Tante Hanne vom Tauschmarkt zurück. Sie hatte zwei lebende Hühner und ein grosses Stück Speck mitgebracht. Den Speck schnitt sie gleich auf und dazu gab es eine Brotscheibe für jeden.
Ich konnte immer noch kein Fleisch essen und lehnte den Speck ab. In einer Zeit des Hungerns und wo es schwer war Nahrung zu besorgen, verstand das niemand. Sie dachten ich sei krank und machten sich die grössten Sorgen. Am nächsten Tag sollte ich die Hühner schlachten, da meine Tante und mein Bruder im Wald waren. Mutter war kränklich und hätte auch aufgrund ihres feinen Gemütes diese Arbeit nicht machen können.
Die Hühner sahen mich neugierig an: Ein weises und ein schwarzes Legehuhn. Ich dachte ihre Gedanken zu lesen zu können und in ihre Seelen zu blicken. Dann spürte ich aufeinmal tiefes Mitleid. Erneut tauchte die Szene auf, wo ich etwa 10 Männer erschossen hatte. An ein Gesicht konnte ich mich noch genau erinnern. Es gehörte einem französischen Jungen. Ich hatte ihn so erwischt, dass er noch zappelte als er blutend am Boden lag. Ich habe ihn schwer mit einem Bajonett verletzt als ich vom Trichter ausgestiegen war und er unbewaffnet, weil er mit mir nicht gerechnet hatte, vor mich hingetreten war. Ich habe also einen wehrlosen Menschen erstochen... Aus Angst, dass er mir was tut.
Ekel und Trauer packten mich bei der Erinnerung. Ich nahm die beiden Hühner links und rechts auf meinen Arm und versteckte sie in der Scheune. Fest entschlossen sie jeden Tag zu füttern. Als es nur trockene Kartoffeln zum Mittagessen gab, zeterte meine Tante wie eine Furie. Ich erklärte, dass ich die Hühner freigelassen hatte, weil ich kein Mörder bin. Mein Bruder und meine Tante hielten mich für geisteskrank und meine Mutter schüttelte weinend den Kopf. Ich glaube das war der Tag an dem meine Familie mit mir endgültig brach und auch ich ihr nicht mehr in die Augen sehen konnte. Liess ich doch meine kränkliche Mutter für ein Ideal hungern. Fortan wurde ich wie ein Sonderling behandelt und meine Tante schlachtete ihr Vieh nun selber, es sei denn ich konnte es ihr vorher wegnehmen, was mir immer wieder mal gelungen ist. Das Ende vom Lied: Sie jagde mich vom Hof.
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