Religion ist eine mögliche Antwort auf die Frage, woher der Mensch kommt, warum er ist und nicht nicht ist, und ein Mittel gegen das Erschrecken darüber, daß man in einem Universum lebt, das kein Interesse hat an einem selbst, an der Gattung Mensch, ja noch nicht einmal an diesem unwichtigen Sonnensystem, zu dem der kleine Planet Erde gehört. Angesichts dessen lädt die Religion den Menschen mit Bedeutung auf, sie erklärt seine Existenz als von einem höheren Willen gewollt. Als solches hat Religion ihre Berechtigung.
Für meine Begriffe am besten ausgedrückt hat dies Dostojewski. Er läßt in den "Dämonen" seinen Kirillow sagen "Der Mensch hat auch nichts anderes getan, als sich einen Gott ausgedacht, um eben leben zu können, ohne sich zu töten. Daraus besteht die Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag." Daraus folgt in brutaler Klarsicht, daß es keinen Gott gibt, aber der Mensch einen Gott braucht.
Kirillow, der versucht, ohne Gott zu leben, stirbt übrigens fünfzig Seiten später: er schießt sich eine Kugel durch den Kopf. Der Atheismus ist eben die schwerste aller Religionen: man hat noch mal einen, dem man die Schuld an allem andrehen kann.
Andererseits muß man erkennen, daß Religion zu einer bestimmten Entwicklungsstufe des Menschengeschlechts gehört. Sie ist die Antwort auf die oben gestellten Fragen, wie sie auf einer bestimmten Stufe der Menschheitsentwicklung möglich und angemessen war. Heute scheinen wir am Ende dieser Epoche zu stehen; wie sterbende Sterne kurz vor ihrem Ende noch einmal als weiße Riesenzwerge gleißend aufleuchten, strahlen zur Zeit Religionen unter anderem noch einmal in der Form ihrer jeweiligen Fundamentalismen und in ihren Rückzugsgefechten auf.
Das Problem ist nur, daß die Fragen, auf die Religion eine probate Antwort war, nicht mit ihr untergehen. Die Entzauberung der Welt, wie sie Max Weber als Signum der Moderne ausgegeben hat, läßt den Menschen unbehaust in einer entzauberten Welt zurück und macht ihn angreifbar für vielerlei Scharlatanerien und Heilsversprechen.
Was dazu führt - und wir können es heute allenthalben beobachten -, daß der Mensch nach Wiederverzauberung giert. Man kann ohne weiteres dazu auch die politischen Weltverbesserungslehren des 19. und 20.Jahrhunderts zählen, ob sie nun wie der Nationalsozialismus quasi religiös das Geschick des Menschen an das ewige Raunen und Wabern des Blutes und der (arischen) Rasse bindet - so ein Quatsch: wenn es in den Blutgefäßen rumort, sollte man zum Arzt gehen, aber nicht in den Krieg ziehen! - oder ob sie das Paradies auf Erden mit ebensolchem religiösen Impetus als nicht zu vermeidende Folge der Klassenzustände seiner Gegenwart prognostiziert. Denn das ist der eigentliche Sündenfall des Marxismus, daß er Geschichte auf ein dürres Konstrukt dürrer Entwicklungsgesetze der Geschichte einkocht und dabei seinen eigenen Ausgangspunkt verrät, daß die Geschichte der Menschheit nämlich immer noch harte Arbeit ist und von den Menschen selbst unternommen werden muß. Also die Propagierung des Menschen als den Herrn seines Geschickes und seine gleichzeitige Abdankung und Absetzung. Was vor allem mit dem Namen Lenin verbunden ist.