[COLOR="Sienna"]Schwarze Serenade[/COLOR]
Ich hoffe, Sie werden das alles verkraften, meine Herrschaften, den ganzen Weltuntergang - und zwar von Anfang an.
Und dann, natürlich dann ein Knall,
der bald im All verklingt, als sei nichts gewesen,
weder Tiere noch Pflanzen noch menschliche Wesen. Zwischen Sonne und Mond ist die Stille größer denn je. Und wir, meine Herrschaften,
begleitet von den Ewigkeiten der Erinnerung, beenden die Geschichtsschreibung.
Eine Sintflut, nicht wahr, wäre doch ungerecht angesichts so vieler unsinkbarer Schiffe. Und sicher können einige Jungfrauen zum fraglichen Zeitpunkt plötzlich fliegen.
Überhaupt sind an so eine Katastrophe auch Hoffnungen
geknüpft: das Ende der Zivilisation, immerhin auch ein Fortschritt - Geldverfall, das Ende zweifelhafter Karrieren, die Intimsphäre ein Schmarren und Barrieren überflüssig.
Selbst Selbstmörder haben jetzt andere Sorgen. Das geht alle an. Jetzt sind alle dran.
Wir werden uns anschauen, entsetzt, hilfesuchend
zum letzten Mal.
Dann krachen die Achttausender zu Tal. Die Kugel bricht.
Der letzte Gott bleibt unsichtbar.
Ein Irrer spricht ganz plötzlich wunderbar vernünftig.
Gerade war es noch so nett, mein Herr. Jetzt splittert das Parkett, mein Herr. Was kann das sein?
Unter den Schuhsohlen bewegt sich etwas von Tokio
bis Caracas.
Rodin's Denker fällt vom Stein. Alles stürzt ins Freie,
aber auch über das Freie stürzt es von oben herein,
platzende Safes, verkohlte Cafes, überall Leichen
und das symbolische Panorama der Andromeda, soweit die Augen reichen.
Der Himalaya flach wie ein Teich.
Nur die Gläubigen singen, vom Ungeheuerlichen gesegnet, ihr letztes Halleluja auf Gottes Reich.
Aber was nützt die Kraft von Psalmen auf überspülten Hochgebirgsalmen?
Und was ein Vater unser im freien Fall? Sei's drum, verehrtes Publikum.
Noch steht der Storch auf einem Bein, doch morgen kann das anders sein.
Nun hat ja das Warten auf die Explosion bei uns schon Tradition:
daß die Welt untergeht, haben vor uns schon andere gesehn, zum Beispiel beim Anblick tropfender Kerzen die Dichter _ und die Menschen beim Anblick anderer Menschen.
Beim eiskalten Drink, dem letzten Vergnügen,
sich mit dem Rätselbild vom Untergang begnügen _
wie angenehm!
Ein Gespräch über das Ende von allem, das nukleare Halali.
die Austrocknungsthese. die Vereisungs theorie -
und das jetzt, wo die Wand einstürzt und weltweit die Welt untergeht. Entsetzlich viele Menschen, entsetzlich hoffnungslos.
Öde Optimisten, schlechte Luft, graue Häuser, mein Kopf, mein Gott, meine Geliebte, Freunde des Atomzeitalters,
die hundert Paläste der Bitterkeit und die Liebe, da ist sie wieder, nutzlos und unangefochten
als Idee.
Selbst das blaue Wunder geht unter.
Stunde Null. Tanzendes Eisen. Tödlicher Beton. Das kennen wir natürlich schon.
Die Phantasie geht in die Knie,
am Abendhimmel zeigt sich ein Komet. Das geht alle an. Jetzt sind alle dran. Jetzt phantasiert nur noch die Realität. Europa - knietief radioaktiv!
Deutschland - endlich uninteressant! Ein Fetzen Glut mit Staub drauf von kosmischen Gestirnen. Amerikanische Wolkenkratzer - nur ein Stockwerk hoch. Die Satelliten funken Funkstille.
Im All verhallt der Knall; von dort stammt die Idee.
Wieder eine Sauriergeneration ausgestorben. Alle tot, Herrschaften, alle -
ein demokratischer Anblick.
Und die Erde weht wie Abfall ans Ende einer Milchstraße.
Gerade war es noch so nett, mein Herr. Jetzt splittert das Parkett, mein Herr.
Entsetzlicher Gedanke, plötzlich frieren beim Küssen und mitten im Tanz aufbören müssen,
ohne Chance.
Jetzt ein Kunststück - und wir wären gerettet!
Wozu taugt denn die Kunst? Nur Kunst? Nur Fragen? Nur Niederlagen?
~ Wolf Wondratschek (*1943) deutscher Dichter und Schriftsteller