Thomas Fasbender,lebte 23 Jahre als Journalist in Russland:
Gerade in diesen Kriegsmonaten kann man erleben, wie zerrissen die Opposition ist: massive Putin-Gegnerschaft und Verurteilung des Krieges einerseits und dann wieder, also gleichzeitig, russischer Patriotismus, teils auch antiwestliche Emotionen. Unser Problem im Westen ist doch, dass wir in unseren Überzeugungen, also was Fortschritt ist und was richtig ist, so festgefahren sind, dass wir vom Anderssein der Anderen gar keine Ahnung mehr haben.
Wir sind so überzeugt, an der Spitze des historischen Fortschritts zu stehen, dass unsere Gegner uns gar nicht interessieren. Ein ungeheurer Fehler. Wir missverstehen die Russen, die Chinesen, die Inder, die Afrikaner. Unser Überlegenheitsgefühl sagt uns, dass sie eigentlich alle Barbaren sind – egal, wie sehr wir uns vom Kolonialismus distanzieren. Wenn wir jeden Versuch, die russische Sichtweise zu begreifen, als Russland- oder Putinverstehertum diffamieren, machen wir uns noch blinder, als wir ohnehin schon sind. Vielleicht ist der Westen mit seinen Waffen in der Lage, den Russen in der Ukraine eine böse Niederlage zu bereiten. Gegen die Chinesen, die sich jetzt sämtliche Lektionen aus diesem Krieg akribisch aneignen, werden wir mit unserem Hochmut scheitern.
Wen repräsentiert der russische Präsident mit seinen Impulsen und seinem Handeln? Auf jeden Fall den sogenannten Muzhik, also den einfachen Russen außerhalb von Moskau und St. Petersburg. Das ist die alte Putin-Mehrheit, die trägt ihn seit 1999. Die politische und wirtschaftliche Elite geht inzwischen auf Abstand, allerdings nicht aus moralischer oder demokratischer oder liberaler Überzeugung. Jede Elite beäugt ihren Führer, prüft sein Siegerpotenzial. Abhängig vom Kriegsverlauf kann es eigentlich jederzeit eng werden für Putin. Was das Verstehen betrifft: Rational macht es überhaupt keinen Sinn, was Russland sich mit diesem Krieg antut. Die Toten, die geopolitische Schwächung, die ökonomischen Folgen. Vielleicht kann man es als Autoaggression interpretieren, als Selbstbestrafung dafür, diesem scheiternden Westen mit seinem Hyperindividualismus, der jedenfalls aus russischer Sicht zum Untergang verurteilt ist, viel zu lange nachgelaufen zu sein.
Zwei Wochen nach Kriegsbeginn hat mich die Schweizer Weltwoche nach Moskau geschickt. Ich erinnere mich genau. Als ich ankam, herrschte wirklich Bestürzung: Wir, das große Russland, haben unser kleines Bruderland angegriffen. Doch dann drehte sich die Stimmung. Damals begannen die Sanktionen, es kamen auch Nachrichten von Übergriffen auf Russen im Ausland. Damit entstand ein völlig anderes Narrativ: Der riesige Westen gegen uns. Logisch, dass die russische Propaganda das ausschlachtet. Aber der Westen hat Partei ergriffen, und natürlich motiviert das viele Russen zum Widerstand. Die Vorstellung, nach 1991 ein zweites Mal gegen den Westen zu verlieren, mobilisiert ungemein. Bei uns versteht das niemand. Wir glauben, der Untergang der Sowjetunion stehe für den Sieg von Freiheit und Demokratie. In Russland sieht man im Ende des Kalten Krieges eine Niederlage des eigenen Landes. Die meisten jedenfalls.
Primär dienen die Sanktionen dazu, der russischen Wirtschaft und dem Staat zu schaden, außerdem erlauben sie den Urhebern, sich auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu wähnen. Solche Eitelkeiten sollte man nicht unterschätzen. In der russischen Gesellschaft, auch unter der politischen und wirtschaftlichen Elite, wirken die Sanktionen eher solidarisierend. Die langfristig bedeutendste Wirkung ist wohl, dass die Chinesen und andere nicht-westliche Länder jetzt ziemlich genau wissen, über welche Daumenschrauben der globale Westen verfügt. Wir haben uns da nackt gemacht. Natürlich bewirken die Sanktionen empfindliche Einschränkungen, etwa bei den Einnahmen aus Ölverkäufen, der Einfuhr kritischer Bauteile usw. Aber Not macht auch erfinderisch. Mein Eindruck ist jedenfalls, dass sie den Kriegsverlauf nicht entscheidend beeinflussen.
Was die Krim betrifft, so bin ich überzeugt, dass der Kreml, egal ob unter Putin oder einem Nachfolger, eher die nukleare Option wählt, als die Halbinsel herzugeben. Das wissen auch die USA, deren Entscheidung letzten Endes die Kiewer Politik bestimmt. Falls die ukrainische Frühjahrsoffensive stecken bleibt, steht ein langer Krieg ins Haus. Kiew wird die vier im September durch Russland annektierten Gebiete nicht aufgeben, und Russland wird sich ausrechnen, dass die Zeit auf seiner Seite ist. Mehr lässt sich derzeit seriös nicht vorhersagen.