..... Dabei gilt: wer lesen kann ist klar im Vorteil, .....
Wie soll eine Minderheitsregierung denn ins Amt kommen?
Du hast völlig recht: „Wer lesen kann ist klar im Vorteil“. Na dann lies Dir doch mal Art. 63 Abs. 2 - 4 GG durch, und schon ist Deine Frage vollständig beantwortet!
..... Politische Rattenfänger werden in deinem Modell zum Problem, nicht im aktuell Herrschenden.
Und wie ist es mit den politischen Rattenfängern, die die Strukturen und Ressourcen einer Partei dazu benutzen, ihre Ziele zu erreichen? Berlusconi ist genau dafür ein Paradebeispiel. Nicht als Rattenfänger, sondern als ausgeprägte „Alpha-Tiere“ haben sich Helmut Kohl und Gerhard Schröder in Grundsatz und Methodik genau so verhalten, prägten ihrer Partei den Stempel auf
und machten sie zum bloßen Kanzlerwahlverein; der einzige Unterschied war, dass sich die SPD-Abgeordneten länger dagegen gesträubt haben. Also: Nicht in meinem Modell, sondern im aktuell herrschenden werden politische Rattenfänger zum Problem, gerade weil sie sich auf einen Parteiapparat stützen können - eine Möglichkeit, die der parteiunabhängige Abgeordnete gar nicht hat!
Wenn man dann noch die immer größere Teile der Bevölkerung zunehmend anwidernde und anödende Parteitaktik betrachtet, die viele Abgeordneten dazu zwingt, öffentliche Stellungnahmen abzugeben, hinter der sie persönlich gar nicht stehen, die aber ihrer Parteizugehörigkeit geschuldet sind, wird klar, dass im bestehenden System irrsinnige Zeit und Energie nur dadurch verschwendet wird, dass jede Partei eine sich möglichst von der der anderen unterscheidende Position vertreten muss, oft genug entgegen dem, wofür sie sich haben wählen lassen - fast immer nach dem Motto: „Wir müssen Profil zeigen“ oder „Wir sind die Guten oder die Besseren, und die anderen die Schlechten“. Das ist doch ekelhaft!
Ich will andererseits Deine Befürchtungen hinsichtlich solcher Kandidaten und Abgeordneten auch nicht in den Wind schlagen; sie sind sehr berechtigt, aber es geht darum, zu erkennen, dass dieses Problem in jedem System auftreten kann und eben nichts damit zu tun hat, ob ein politisches Alpha-Tier partei-„gebunden“ oder parteiunabhängig ist.
..... Mit welcher Legitimität soll sie als Exekutive gegenüber der Bevölkerung auftreten?
Spiel' mal in deinem System ein "konstruktives Misstrauensvotum" durch. Wie sollen strittige Fragen durch's Parlament? Mit der Vertrauensfrage? Und wenn der Kanzler keine Mehrheit findet?
Dann findet er keine! Auch ein solcher Fall ist im Grundgesetz geregelt, und auch hier ist wieder im Vorteil, wer lesen kann:
Art. 68 Abs. 1 GG. Die Legitimität wird nicht geringsten beeinträchtigt; entweder sucht sich der Kanzler parteiübergreifend für das jeweilige Beschlussthema eine Mehrheit, dann braucht er die Vertrauensfrage gar nicht zu stellen, oder er muss eben diesen Weg gehen. Vielleicht sollten wir uns mal langsam daran gewöhnen, dass in Zukunft ein Kanzler sich nicht mehr stets auf festgefügte Parteienblöcke oder festgezurrte Koalitionsvereinbarungen stützen kann, sondern für jedes Beschlussthema eine dann wahrscheinlich auch jedes Mal anders zusammengesetzte Mehrheit finden muss. Genau daran sehen wir nämlich, dass dann ein nicht so kategorisch auf die Parteien zugeschnittenes System mehr Stabilität mit sich bringen kann als ein parteizentriertes System, weil in einem solchen die meisten Probleme im Zusammenhang mit Misstrauens- und Vertrauensvotum eben gerade durch die Parteigebundenheit und die meiner Ansicht nach sowieso verfassungswidrige Fraktionsdisziplin der Abgeordneten entstehen. Was hat genau dieses heutige System denn mit Legitimität zu tun? Wenn der Kanzler sich auch jenseits der Parteigrenzen Mehrheiten suchen könnte und müsste, wäre das für ihn sehr viel anstrenger - aber darum geht es nicht! Er müsste vielleicht auch seine Politik ändern und Lösungen finden, für die es im Parlament eine Mehrheit gibt - hier wäre die Legitimationskette aber sehr viel kürzer und daher stärker als bei den heutigen parteitaktischen Machtspielchen, wie wir sie im Bundestag schon öfter erlebt haben.
..... Dann bleibt er geschäftsführend im Amt. Und wo ist die konstruktive Mehrheit, um seine Regierung abzulösen? Mit anderen Worten: du baust ein Modell, das strukturell anfällig ist für "negative Mehrheiten" - das hatten wir schon. Parteien, die sich scheuten die parlamentarische Verantwortung zu übernehmen.
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Nein, eben nicht. Wenn der Kanzler weder eine ausreichende parteigebundene noch eine sich über die Parteigrenzen hinaus erstreckende Mehrheit hat und die Vertrauensfrage stellt und verliert, kommt es zu Neuwahlen, in denen der Wähler klare Verhältnisse schaffen kann - wenn er die Vertrauensfrage nicht stellt, kann das Parlament jederzeit durch konstruktives Misstrauensvotum einen anderen Kanzler wählen. Wenn kein konstruktives Misstrauensvotum stattfindet, ist der Kanzler spätestens mit der nächsten regulären Bundestagswahl am Ende. Das derzeitige System hat ja auch nicht immer funktioniert, wie bei Willy Brandt 1972 und bei Gerhard Schröder 2005 ersichtlich. Dass die Wähler meisten klare Mehrheiten ermöglicht haben, lag nicht an diesem System und würde auch nicht durch ein anderes System verhindert.
..... Das mag eine gewisse Zeit in einem Präsidialsystem funktionieren, da es eine zweite Säule gibt, die die Schwäche des Parlaments auffängt, aber langfristig ist das Scheitern angelegt.
Das hat nichts damit zu tun, ob es sich um ein Präsidialsystem oder eine „Kanzlerdemokratie“ wie unsere handelt. Schau mal in die USA, ein Paradebeispiel für ein Präsidialsystem: Da muss der Präsident auch Kompromisse machen und sich nicht selten über die Partei hinaus, aus der er stammt, Mehrheiten suchen. Das ist überhaupt nichts anderes wie in einem System, in dem sich nicht der Präsident, sondern der Kanzler vielleicht auch mal oder eben häufiger wechselnde Mehrheiten suchen muss. Es ist doch gerade der eigentliche Sinn der Demokratie, dass der Regierungschef, wer immer das auch sein mag, sich eine Mehrheit für seine Politik suchen muss, und das kann er entweder durch eine stabile und festgefügte parteigebundene Mehrheit mit Koalitionsvertrag oder eben durch wechselnde Mehrheiten. Sollte es in Zukunft Volksentscheide auch auf Bundesebene geben, würde es sowieso öfter zu regierungskonträren Entscheidungen kommen, dann müssten der Kanzler und seine Minister sich sowieso daran gewöhnen, dass nicht vier Jahre lang nach einem abzuarbeitenden Koalitionsvertrag „durchregiert“ werden kann.
Und das Präsidialregime in der Endphase der Weimarer Republik war auf die Nutzung des Notstandspharagraphen 48 angewiesen. Wir haben für solche Spielereien weder einen mit entsprechender Machtfülle ausgestatteten Präsidenten, noch die entsprechenden Notstandsparagraphen. Zum Glück.
Der Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) war aber nicht die Ursache für die Machtübernahme des Braunauers und für die Instabilität der Weimarer Republik, sondern konnte sie eben nur nicht verhindern. Auch unser derzeitiges System - in die Dreißiger Jahre versetzt - hätte das nicht verhindern können. Spielen wir jetzt mal etwas anderes durch und nehmen an, dass die NPD oder die DVU es in mehreren Landesparlamenten und auch im Bund zu deutlich mehr als 5% Stimmen gebracht hätten - in mehreren Landesparlamenten war das ja schon der Fall (so viel auch zum Nutzen der 5%-Klausel!), und im Bund kam die NPD 1969 immerhin auf 4,3%. Mit nichts, aber auch gar nichts könnte mit unseren System verhindert werden, dass wieder eine rechte Diktatur entsteht, wenn zwei oder drei rechte Parteien zusammen so viel Stimmen bekommen würden wie die Koalition von 1933!
Dann noch etwas: Du siehst Gefahren für die Stabilität und die Demokratie durch ein Wahlsystem, das parteiunabhängigen Kandidaten mehr Chancen einräumt. Wir kommen wieder zum Nutzen des Lesens zurück: Lies mal Art. 22 WRV, und was findest Du zum Wahlsystem? Art. 22 Abs. 1 WRV: ….allgemeine, unmittelbare, gleiche und geheime Wahl ….. Alles andere regelte ein Reichsgesetz - das tat es durch das Einrichten eines reinen Verhältniswahlrechts! Dieses hat also schon den (negativen) Beweis dafür erbracht, dass es ein Tausendjähriges Reich nicht verhindern kann.
In diesem Zusammenhang dann auch folgendes: Du hast kürzlich die Auffassung vertreten, dass das konkrete Wahlsystem nichts im Grundgesetz zu suchen habe und dieses dadurch überladen würde. Nun haben wir im Grundgesetz zum Wahlsystem kaum mehr drinstehen als in der WRV, und fast alles ist auch jetzt im einfachen Wahlgesetz geregelt …… so viel zu diesem Nebenthema!
P.S.: Wenn ich mich recht erinnere, kommt es Dir doch stark auf Belesenheit an - wie steht es denn damit bei Dir? Die Notstandsregelung der Weimarer Verfassung war kein Paragraph, sondern ein Artikel wie alle neueren Verfassungsregelungen!