Mangel an Ausgewogenheit
Ein kurzer Blick auf die OSZE-Berichte vom Februar 2022 ist aufschlussreich. Der Bericht der OSZE-Sonderbeobachtungsmission in der Ukraine vom 15. Februar verzeichnete 41 Explosionen1 in den Waffenstillstandsgebieten. Diese Zahl erhöhte sich auf 76 Explosionen am 16. Februar,2 316 am 17. Februar,3 654 am 18. Februar,4 1413 am 19. Februar,5 insgesamt 2026 am 20. und 21. Februar6 und 1484 am 22. Februar.7
Aus den Berichten der OSZE-Mission geht hervor, dass die überwiegende Mehrheit der Einschläge der Artillerie auf der separatistischen Seite der Waffenstillstandslinie stattfand.8 Man könnte die ukrainische Bombardierung des Donbass leicht mit der serbischen Bombardierung von Bosnien und Sarajewo vergleichen. Doch die geopolitische Agenda der Nato begünstigte damals Bosnien, und auch dort war die Welt in Gut und Böse aufgeteilt.
Jeder unabhängige Beobachter würde sich über den Mangel an Ausgewogenheit bei den Diskussionen im Menschenrechtsrat am Donnerstag empören. Aber gibt es noch viele unabhängige Denker in den Reihen der «Menschenrechtsindustrie»? Der Druck des «Gruppendenkens» ist enorm.
Fragwürdige Untersuchungskommissionen
Die Idee, eine Untersuchungskommission zur Aufklärung von Kriegsverbrechen in der Ukraine einzurichten, ist nicht unbedingt eine schlechte Idee. Aber eine solche Kommission müsste mit einem umfassenden Mandat ausgestattet sein, das es ihr ermöglicht, Kriegsverbrechen aller Kriegsparteien zu untersuchen – sowohl die der russischen Soldaten als auch der ukrainischen Soldaten und der 20 000 Söldner aus 52 Ländern, die auf ukrainischer Seite kämpfen. Nach Angaben von Al-Jazeera stammen mehr als die Hälfte von ihnen, 53,7 Prozent, aus den Vereinigten Staaten, Grossbritannien und Kanada und 6,8 Prozent aus Deutschland. Es wäre auch gerechtfertigt, der Kommission das Mandat zu erteilen, die Aktivitäten der 30 US-amerikanischen und ukrainischen Biolabors zu untersuchen.
Was an dem «Spektakel» vom 12. Mai im Rat besonders anstössig erscheint, ist die Tatsache, dass die Staaten eine Rhetorik an den Tag legten, die dem Menschenrecht auf Frieden (Resolution 39/11 der Generalversammlung) und dem Recht auf Leben (Art. 6 ICCPR) zuwiderläuft. Im Vordergrund stand nicht die Rettung von Menschenleben durch die Suche nach Wegen zur Förderung des Dialogs und zur Erzielung eines vernünftigen Kompromisses zur Beendigung der Feindseligkeiten, sondern lediglich die Verurteilung Russlands und die Berufung auf das internationale Strafrecht – natürlich ausschliesslich gegen Russland.
Die Redner auf der Veranstaltung beschränkten sich in erster Linie auf «naming and shaming», meist ohne Beweise, da viele der Anschuldigungen nicht durch konkrete, gerichtsverwertbare Fakten untermauert wurden. Die Ankläger stützten sich auch auf Behauptungen, die Russland bereits angesprochen und widerlegt hatte. Aber wie wir aus dem Text des Simon & Garfunkel-Songs «The Boxer» wissen: «Ein Mann hört, was er hören will, und ignoriert den Rest.»