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Der Spielveränderer: die FPV-Drohne
Die "Molekularisierung des Angriffs" hat nicht so viel mit dem Winter zu tun, der zwar auch sein Übriges tut, die Frontbewegungen zu verlangsamen, das hat vor allen Dingen mit einer neuen Waffe zu tun, die alles verändert: die FPV-Drohne. Wie tödliche Hornissen werfen sich Schwärme von elektronischen Großinsekten auf jede mögliche Bewegung an der Front.
Waren es am Anfang nur Fahrzeuge, die gefährdet waren oder Gruppen von Militärs, so werden jetzt einzelne Soldaten angegriffen. Oft kreisen gleich dutzende Drohnen über eine Einheit und suchen Ziele.
Und wie früher im Ersten Weltkrieg neue technische Entwicklungen jede Form von Bewegung nahezu unmöglich gemacht haben und Gebietseroberungen mit Tausenden von Toten erkauft wurden – wegen des Maschinengewehrs, des Flammenwerfers, des Minenwerfers – so ist es heute die kleine FPV-Drohne, ursprünglich ein Spielzeug, welche die Soldaten nun das Fürchten lehrt.
Das Geschehen bei Awdijiwka
Also bedeutet ein Angriff im Jahre 2024 in der Ukraine das Suchen nach schwachen Stellen mit molekularen Kräften, ein mögliches Sich-Festsetzen, dann warten auf die Verstärkung, eingraben, das feindliche Feuer überstehen, Artillerie, Drohnen und Gegenstöße der gegnerischen Truppe.
So wechseln Dörfer mehrmals den Besitzer, gehen, wie nördlich von Awdijiwka etwa das kleine Dorf Stepove, von einem Kriegsgegner wieder auf den anderen über.
Bis nichts mehr zu sehen ist von Gebäuden, die oft nur noch aus Grundmauern bestehen und aus Kellern, die Schutz bieten, die verstärkt werden und ausgebaut zu behelfsmäßigen Bunkern. In Stepove kommen noch Tunnel hinzu, und die verhindern seit Beginn der Awdijiwka-Offensive die Einnahme durch die russischen Angreifer.
Nach Wochen des Kampfes gelingt es den ukrainischen Kräften dort weiterhin, den südlichen Teil des Dorfes zu halten. Die russischen Streitkräfte konnten allerdings Geländegewinne nördlich des verwüsteten Dorfes vermelden.
Die größten Erfolge gelangen den russischen Truppen im Süden Awdijiwkas. Dort konnten sie ein etwa ein Kilometer ausgedehntes Industriegebiet erobern und dann weiter in den südlichsten Zipfel der Stadt eindringen, eine Einfamilienhaussiedlung.
Eroberungen und Rückeroberungen
Weitere Kämpfe gibt es etwa in Nowomychajliwka, südwestlich von Donesk, nur wenige Kilometer südlich von Marjinka, das erst kürzlich von russischen Streitkräften gänzlich eingenommen wurde.
Dort konnten russische Truppen von den Verteidigern noch vom Stadtrand wieder zurückgedrängt werden, doch wenn die russische Armee weiter vom Norden her vordringt, wird die Situation für die Verteidiger schwierig.
Im Abschnitt bei Bachmut konnten alle Rückeroberungen der ukrainischen Truppen wieder durch russische Kräfte zunichtegemacht werden, diese bedrohen jetzt Ivanivske.
Auch in Robotyne, das so lange und schwer umkämpft war in der ukrainischen Frühlingsoffensive und wo es ukrainischen Truppen gelungen war, in die erste russischen Verteidigungsstellung einzubrechen, auch dort machen russische Truppen langsam aber stetig Boden gut und die Ergebnisse der ukrainischen Offensive wieder rückgängig.
In Krynky bei Cherson wird der ukrainische Brückenkopf durch russische Angriffe immer kleiner.
Russische Armee rückt vor
Es gibt noch viele Frontabschnitte, an denen russische Truppen hundertmeterweise vorrücken, es werden wenige ukrainische Gegenangriffe gemeldet. Es geht nach Westen, aber sehr langsam. Nirgendwo gibt es Durchbrüche, die ukrainische Front hält. Noch. Denn die Lage wird für die Ukraine zunehmend schwierig.
Täglich soll die russische Artillerie 10.000 Granaten verschießen können, die Ukraine
nur 2.000. Bei den FPV-Drohnen soll das Verhältnis ähnlich aussehen, allerdings gibt es auch Berichte russischer Soldaten über eine ukrainische Überlegenheit an Drohnentechnik.
Wie es aussieht, liegt die Initiative aber fast vollständig bei den russischen Streitkräften. Folgerichtig bemüht sich die Ukraine, schnellstmöglich
Verteidigungsanlagen zu erbauen, so wie Russland das in den Monaten vor der Frühlingsoffensive im letzten Jahr erfolgreich gemacht hat – an denen die Ukraine
gescheitert ist.
Wird die Zeit für die Ukraine dafür noch reichen?
Neue strategische Reserven und alte Panzer
Zusätzlich hat die Ukraine neue strategische Reserven geschaffen. Diese können jetzt an gefährdeten Frontabschnitten eingesetzt werden. Noch im bedrohten Awdijwka musste das ukrainische Oberkommando dafür Kräfte aus anderen Abschnitten herauslösen und diese dadurch schwächen.
Es handelt sich bei den neuen Reserven um insgesamt sechs frische Brigaden, also irgendetwas zwischen 9.000 und 30.000 Soldaten.
Doch es gibt ein großes Problem: die Bewaffnung. Denn diese scheint in der Hauptsache aus alten Panzern zu bestehen, aus
T-62 für die 154ste Mechanisierte Brigade und
Leopard 1A4 für die 5te Panzerbrigade.
Beide Konstruktionen hinken grob zwei Technik-Generationen zurück.
Damit wären aber erst zwei Brigaden der sechs neuen Brigaden mit Panzern versehen. Eigentlich haben die USA der Ukraine ältere Abrams-Panzer der ersten Generation überlassen.
Abrams-Panzer der ersten Generation
Doch diese sind außer am Bug
nur schwach gepanzert. Der Kalte Krieger ist nämlich für Frontalangriffe, für Panzerschlachten gebaut – und passt so mit seinem Design nicht mehr ins Jahr 2024 – dem zweiten Jahr nach dem Jahre Null für die Panzerwaffe, dem zweiten Jahr nach der Erfindung der militärischen FPV-Drohne.
Denn nun gibt es kein vorne und hinten mehr, kein oben und unten – die kleinen Drohnen greifen von allen Seiten an, von unten ist der Panzer durch eine große Zahl von Minen bedroht. Die Turm-Panzerung des Abrams ist mit 25 Millimetern weniger als halb so stark wie die eines Leopard 1A4 mit seinen 60 Millimetern.
Auch Staub mag der 68 Tonnen schwere Panzer-Dino nicht gerne, die Motoren-Filter müssen zweimal am Tag gereinigt werden – auch unter Beschuss, sonst gibt es einen
Motor-Totalschaden.
Dabei braucht die Ukraine dringend adäquat ausgerüstete Reserven, denn der Armee droht das Personal auszugehen.
Opferzahlen
Erst vor kurzem behauptete der ehemalige Innenminister der Ukraine,
Jurij Luzenko, sein Land würde etwa 30.000 Soldaten pro Monat verlieren, insgesamt seien es schon
500.000 – das Video findet sich auf
YouTube.
Mit den Zahlen möchte Luzenko die Dringlichkeit einer weiteren Mobilisierungswelle unterstreichen. Ähnlich hohe Zahlen nennt der deutsche Generalleutnant Andreas Marlow, Kommandeur der EU-Ausbildungs- und Trainingsmission für die Ukraine in einem Interview mit der
Neuen Züricher Zeitung (NZZ):
Von den 200.000 professionellen Soldaten, die es im Februar 2022 gab, ist die überwiegende Zahl inzwischen gefallen, verwundet oder befördert. Die überwiegende Zahl der ukrainischen Frontsoldaten heute sind Zivilisten oder bestenfalls Reservisten.